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„Unter einem Höhennetz versteht man in der Geodäsie ein Vermessungsnetz, von dessen Punkten nur die Höhen über Meeresniveau, nicht aber die horizontalen Koordinaten eingetragen sind. Die Punkte bilden die Grundlage für Höhenmessungen weiterer Punkte.“ Wikipedia

Vor einiger Zeit hörten wir zum ersten Mal, dass es ein Höhennetz gibt. Ein virtuelles Netz, das um die ganze Erde gespannt die unterschiedlichen, als Normal Null definierten Messpunkte miteinander verbindet. Ein Netz, das uns zeigt, wo sich der gedachte normale Meeresspiegel befindet. Ein Netz, das uns zeigt, wie hoch oder tief wir gerade auf der Welt stehen, das uns zeigt, wo wir uns befinden zwischen oben und unten. Ein Netz, das um die ganze Erde gespannt wird.

Und wenn ich mir jetzt dieses Netz vorstelle, mit ganz vielen Fäden und Knoten, an manchen Stellen engmaschig, an anderen mit weiteren Maschen, wenn ich mir das so vorstelle, dann sehe ich die Menschen auf diesem Netz laufen, um die ganz Welt herum. Und wenn sich zwei Menschen begegnen auf dem Netz, dann können sie sich nicht ausweichen, dann bleiben sie stehen und einigen sich darauf, wer jetzt umdreht und dem anderen zuliebe ein kleines Stück in die Richtung zurückgeht, aus der er gekommen ist, bis zur nächsten Kreuzung, an der er dann für den anderen Platz macht, damit der andere vorbeigehen kann, um dann selbst wieder seine alte Richtung einzuschlagen und seinen Weg fortzusetzen, seinen Weg um die Welt auf diesem Netz.

Und wenn ich mir dieses Netz vorstelle, dann sehe ich es ganz flach über der Meeresoberfläche, weil ich natürlich aus einem Land komme, das nicht wirklich weit über dem angenommenen, dem gemittelten Meeresspiegel liegt, an dem das Netz sich orientiert. Und an den Tagen, an denen der Tidenhub auf der anderen seite der Welt stärker ist, der Wasserstand auf meiner Seite der Welt hingegen etwas niedriger, an diesen Tagen kann ich das Netz auftauchen sehen, aus dem Meer, kann ich sehen, wie die Wellen über das Netz lecken, es unter sich verbergen und wieder freilassen im sanften Wechsel der Wellenberge und –täler. Und dann warte ich, dass das Meer sich beruhigt und der Meeresspiegel sich glättet, damit ich ganz dicht über dem Wasser auf dem Netz entlanglaufen kann.

Und dann stelle ich mir vor, wie ich über das Netz laufe, und all die anderen Netzläufer treffe, ihnen ausweiche, sie vorbeilasse, oder sie mich, wie wir uns zuwinken von einem Seil zum anderen, wie hunderte von Netzläufern sich auf den Weg machen, um herauszufinden, was wohl auf der anderen Seite ist. Oder einfach nur, um auszuprobieren, ob es machbar ist. Ob dieser Weg machbar ist, dieser Weg gangbar ist. Und dann stelle ich mir vor, wie ich auf der anderen Seite ankomme, dort wo das Netz im Strand, im Sand, in der Uferböschung verschwindet. Unsichtbar, verborgen, unterirdisch dort seinen Weg fortsetzt, um nur an gelegentlichen Stellen wieder sichtbar zu werden, an Senken zum Beispiel und in Tälern, über Tiefebenen, ganz flach über dem Erdboden, aber den Rest der Zeit ist es unter der Erde, also überall da, wo die Erde aufragt über Normal Null, ich sehe Berge und Hügel und weite Ebenen, unter denen das Netz verborgen liegt, bis es irgendwo wieder aus einer Uferböschung, einem Hügel oder einem Berg herauskommt, um wieder in die Erde oder ins Meer zu gleiten und je nach Höhe des Meeresspiegels an der betreffenden Stelle sich dem Netzläufer wieder anbietet für seine Reise um die Welt.

Und dann stelle ich mir vor, wie es wohl an den tiefsten Landstellen der Welt aussehen muss. In der Wilster Marsch zum Beispiel, dieser tiefsten Landstelle Deutschlands. Stelle mir vor, wie das Netz über den Wiesen und Gräben liegt, wie es in der Ferne verschwindet auf der Suche nach dem Ort, an dem es wieder eintaucht in die Erde oder ins Meer. Und dann stelle ich mir vor, wie es aussehen muss, wenn der Ort noch tiefer liegt, am Toten Meer zum Beispiel, diesem tiefst gelegenen Gewässer der Erde. Und ich sehe das Netz vor mir, vierhundert Meter über dem Toten Meer, und ich sehe all die anderen Netzläufer auf dem Netz, und ich sehe mich selbst auf dem Netz entlang balancieren, hoch über dem Toten Meer, ich sehe die anderen Netzläufer den Berg hinabkommen, um die Stellen zu erreichen, an denen das Netz aus dem Berg kommt, denn es muss ja aus dem Berg, aus der Erde hinauskommen, an den Stellen, an denen das Land Normal Null durchwandert, an denen das Land von über Normal Null auf unter Normal Null sinkt, die Stellen der Welt, an denen das ganze große die Erde umspannende Netz sichtbar wird, die Orte, an dem wir auf das Netz steigen können, um unsere Reise zu beginnen, unsere Reise um die Welt auf dem internationalen Höhennetz, unseren Seiltanz in Null komma Null Metern Höhe…